24 Feb
24Feb

Ich schaute mich im Spiegel an, während ich mein Haar kämmte, und sah überall silberne Strähnen in meinem langen, einst schwarzen Haar. Ein süßes Gefühl von Seniorität überkam mich. Anfang 1953 geboren, fühle ich mich heute, als würde nun mein Weg der Großen Rückkehr beginnen; jetzt bittet mein Körper nicht mehr um eine gesegnete Suche in der Außenwelt, sondern um einen weisen Weg durch das unbekannte Universum – den Weg, der mich seit meinem ersten Atemzug hier auf dieser Erde begleitet. Meine innere Welt ruft nach mir. Ich betrete jungfräuliche Wege, um die Urgroßmutter zu treffen, die letzte Älteste, die geduldig darauf wartet, mir zu begegnen. Ich spüre den sanften Wind, der mir sagt, dass meine Zeit immer näher rückt. Ich möchte eins werden, eins mit mir selbst, mit meinem inneren Wesen. Die Illusion der Trennung löst sich kraftvoll auf; ganz sicher hat die Göttliche Quelle hart daran gearbeitet, dass jeder Teil von mir seine komplementäre Seite finden und so die Einheit entstehen konnte. Ich betrachtete mein Bild im Spiegel des Lebens und erinnerte mich an alle Ältesten, die mir vorausgingen: meine Großmütter, meine Mutter, meine Großväter, mein Vater...... ein Augenblick heiliger Erinnerungen, in dem die Zeit sich so zeigt, als öffne man jenes schöne Buch, in dem niemand außer mir lesen kann: mein individuelles Buch, mein ganz persönliches Buch ‚par excellence‘.

Von Ferne höre ich eine Stimme, die mich leise und doch kraftvoll ruft; ich stehe auf, um weiterzuarbeiten an einer der vielen Arbeiten, die ich leite. Rasch folge ich den Wegen, die gesäumt sind von Zitronengras und anderen Kräutern und rieche den weichen Duft von Eukalyptus, dem Markenzeichen der Stiftung Terra Mirim (terramirim.org). Ich beginne die Arbeit mit dem Tod als zentrales Thema; die Stunden verschmelzen mit dem Raum und die Zeit verbindet sich mit der Ewigkeit. Jeder Teilnehmer der Arbeit taucht langsam und tief in sein wahres Selbst ein, bis das kleine Selbst nicht mehr existieren kann. Weisheit durchdringt unsere Schritte und intuitiv werden uns Antworten angeboten. Eine süße Opfergabe von Brot und Wein, das Manna der Götter. Wir werden dazu angeleitet, unsere/n innere/n Älteste/n zu suchen und von ihr/ihm geführt zu werden. Tage und Nächte sind nur mehr Zeichen vergangener Kreisläufe. Stückchen für Stückchen retten wir Bruchstücke unseres bunten existentiellen Mandalas; für einige ist der Weg sanft, für andere hart und explosiv. Es sind persönliche Entscheidungen, um anzukommen auf dem Ursprünglichen Pfad, dem niemand ausweichen kann.

Wir beendeten die Arbeit mit einem schönen Kreis des Mitteilens, aber wie bei jedem Ende, war es lediglich der Beginn einer nächsten Sequenz.

Als ich nach Hause zurückkehrte, spürte ich, dass etwas in mir zu sprechen versuchte; ich lehnte mich an die Tür, schloss die Augen und sah, wie meine innere Älteste näherkam, mit ihrem einfachen, gepunkteten, blumigen Kleid, mit ihren glatten Haaren, und ihre Augen waren so süß wie Baumwollflocken. Sie lächelte und bat mich, meinen Kopf in ihren Schoß zu legen. Ihre Haut verströmte einen weichen Duft von Basilikum. Aus meinen Augen rollten reichlich heiße Tränen mein Gesicht hinunter. "Ruhe Dich aus, meine Liebe", sagte sie, "hier bei mir, kannst Du schlafen und träumen". Ich fiel in einen tiefen Schlaf und sah Älteste in einem Kreis sitzen und miteinander sprechen. Ich kam näher und erkannte, dass sie mich erwarteten. Ich setzte mich zu ihnen in den Kreis und spürte, dass dies mein Platz war, meine nahe Zukunft, die auf mich wartete. In jedem dieser Gesichter bemerkte ich das süße Warten dieser Menschen, für die Eile keinen Sinn mehr machte; es gab ein zartes Lächeln des Willkommens und Stille. Dort war meine Erkenntnis: Ruhe, Hingabe, tiefer Frieden; ich blieb noch für unbestimmte Zeit im Kreis, bis ich die Augen öffnete und die Kühle der Nacht bereits die Haut meines Körpers berührte.

Am nächsten Tag begann ich meine Suche nach der wahren Bedeutung unserer Ahnen, mein Verstand wollte etwas Tiefergehendes über den Zustand des hohen Alters erfahren. Hierfür galt es in das Feld derer einzutreten, die in unserer Kultur wenig gehört werden; schließlich ging ich in dieses Feld hinein und genoss alles, was mir die Herrin der Verwandlung erlaubte, bevor ich diesen Planeten verließ.

Schon immer war mir bewusst, dass für Schamanen das Alter gleichbedeutend mit Weisheit ist, gemeint sind die Älteren, die wir Ahnen nennen. Wenn sich Menschen dem Ende ihrer Lebenszeit nähern, erhalten sie in der Lebensphilosophie des Schamanismus hohe Anerkennung ihres Stammes, nämlich als Berater und als Hüter des Wissens, als Geschichtenerzähler und als Vermittler von Erinnerungen. Sie sind wirklich das lebende heilige Buch, wo in jedem Teil ihres Körpers das Wissen eingeprägt ist das den Jüngsten vermittelt werden soll. Es gibt unzählige Geschichten, die uns ernsthaft nachdenken lassen über Schönheit und Tiefe des Lebenssinns – und warum nicht auch über den Sinn des Todes.

Unsere Kultur bindet uns an ein Verhaltensmuster, in der das Älterwerden – oder das Lebensalter der Befreiung, wie ich es nenne –  so ab 60 aufwärts gleichbedeutend ist mit Krankheiten, Schwächen und Unzulänglichkeiten. Laut Shalomi und Miller (im Buch "Vom Alt-Werden zum Weise-Werden“) „...betreten Menschen aufgrund negativer Bilder und Erwartungen, die unsere Kultur vermittelt, ein Land namens Alter, in dem sie sich ängstlich fühlen, in dem ihr Körper nicht mehr so funktioniert wie bisher und sie sich vom Leben besiegt fühlen – sie glauben, dass sie dazu verdammt sind, mit immer weniger Selbstwertgefühl und Respekt zu leben. Als Bürger dieses unterdrückten Landes warten sie nur darauf zu erleben, dass ihre Lebendigkeit, ihre Lebensfreude und ihre soziale Nützlichkeit sich verringern."

Ein schöner Fund für große Reflexionen: Halten wir jemals inne, um über das Land des Alters nachzudenken, das uns erwartet? (halten wir irgendwann mal an, um über das Land Alter nachzudenken?  Wäre es nicht an der Zeit, dass wir unabhängig von unserem Alter versuchen, Kontakt mit unserer/unserem inneren Ältesten aufzunehmen? Das ist interessant, weil wir immerzu unser inneres Kind, unseren Jugendlichen, unsere/n Frau/Mann suchen, aber wir jenen Teil von uns beiseitelassen, der sich laut in Erinnerung bringt: unsere/e innere/r Älteste/r.

Unsere Kultur drängt auf Produktion und auf Konsum, und wir, die Sklaven unserer eigenen Schöpfung, pflegen diese Kultur mit einer Haltung unverzeihlicher Ignoranz. Die Älteren produzieren nicht, sie konsumieren nicht, warum also sollte man sich um sie sorgen? Warum sollte man sie in unser schönes Land einbeziehen, das dermaßen erfüllt ist von Konsum und Unruhe?

Ich erinnere mich, dass mir eine Klientin von etwa siebzig Jahren sagte, sie sei wachgeworden für den Unterschied zwischen alt und betagt. "Alte Menschen langweilen sich, sind mürrisch“  – sagte sie mir – „betagte Menschen sind weise, sie haben gelernt, dass allein Geduld eine wirkliche Begegnung ermöglicht – die Begegnung mit sich selbst und mit dem, was kommen wird. Ich habe immer noch Träume, XamAM, und ich beabsichtige, sie zu verwirklichen". Das brachte mich zum Nachdenken, und während ich weiter darüber forschte, begegnete mir oft diese Definition jener Dame, die von Wissenschaftlern bestätigt wurde. "Das Altern selbst ist nicht das Problem. Der Grund für unsere Probleme ist das Bild, das wir vom Altern haben, unsere kulturellen Erwartungen. Um ein positiveres Älterwerden zu erreichen, müssen wir unsere Paradigmen über das Altern verändern, jenes Modell oder Projekt, das die Qualität unserer Erfahrung bestimmt", sagte einer der Wissenschaftler zu diesem Thema. Ja, es ist wahr, und wir wissen: um etwas zu dekonstruieren, müssen wir eine Überprüfung unserer Werte vornehmen und dementsprechend etwas Neues erschaffen. Wie macht man das? Es gibt unzählige Techniken, die heutzutage von Fachleuten eingesetzt werden, die sich mit diesem Thema befassen. Eine, die ich für sehr geeignet halte, ist das spiritualisierte Altern, bei dem durch den Prozess der Selbsterkenntnis, der sich ausschließlich auf eine Überprüfung von Werten und Paradigmen richtet, unter Verwendung meditativer Techniken, die von Schamanen, Buddhisten, Zen-Buddhisten-Lehren oder anderen erlernt wurden, die Menschen ihre Lebensgeschichten erkennen und so die Möglichkeit haben, die zerbrochenen Bindeglieder ihres existentiellen Werdeganges wiederzufinden und diese wiederherzustellen. Diese Techniken helfen jedem Menschen, seine essentielle Aufgabe zu entdecken, nämlich diejenige, die uns von unserer spirituellen Dimension aufgetragen wird.

Um diese Frage besser zu verstehen, können wir eine Analogie zwischen den Zeitzyklen der Jahreszeiten – der Natur und unserem eigenen Lebenskreislauf – herstellen.

Der Frühling repräsentiert die Periode jener ersten drei mal sieben Jahre unseres Lebens – die Phase von der Geburt bis zum Alter von 21 Jahren – das ist der Moment, in dem die Natur sich präsentiert und den Augen der Welt ihre Schönheit und Stärke zeigt; ebenso wie sie blühen auch wir Menschen durch unsere Jugend und unsere Träume, die durch kulturelle und familiäre Muster genährt werden. Wir sind bereit, uns der Welt zu stellen!

Die Sonne beginnt nun, ihre stärksten Strahlen zu verströmen, die Erde verlangt nach Pflege. Der Sommer rückt näher. Dies ist die Phase zwischen 21 und 42 Jahren. Jetzt tauchen wir in die Welt ein mit allen Werkzeugen, die wir erworben haben. Das Bedürfnis des Habens wird stärker ausgeprägt und die Arbeit ist das wichtigste Ziel. Wir müssen etwas tun, was auch immer es ist, damit wir existieren und bekommen können, was wir brauchen. Die Jagd nach dem materiellen Schatz beginnt; parallel dazu beginnt ein Erwachsener Gestalt anzunehmen – die Notwendigkeit, die intellektuellen und emotionalen Trümmer loszuwerden, die durch etablierte Muster erworben wurden, wird vollständig sichtbar. Wie im Sommer, wenn Großvater Feuer die Erde von ihren Krankheiten reinigt, versuchen wir, uns von allem zu reinigen, was uns nicht mehr dient.

Die dritte Phase beginnt, ihr Gesicht zu zeigen; der Herbst rückt näher und mit ihm eine tiefe Zeit der inneren Sammlung; nun werden von uns Ausarbeitungen und Neuausrichtungen verlangt. Wir befinden uns in der Zeit zwischen dem 42. und 63. Lebensjahr. Unsere Aufgabe, eine soziale Identität und einen Platz in der Welt zu etablieren, ist im Wesentlichen abgeschlossen. Wir nehmen wahr, dass unsere Kinder das Haus verlassen, der Ruhestand steht vor der Tür, die Einsamkeit beginnt spürbar unser Wesen zu umgeben, und fast als Verpflichtung werden wir dazu gebracht, neue Werte und damit neue Landschaften zu entdecken. Der Schweizer Analytiker Carl Jung nennt diese Periode „Individuation“, was bedeutet, das eigene einzigartige Selbst anzunehmen und auszudrücken. Diese Zeit unseres Lebens bedeutet notwendigerweise, dass wir unsere Seele und unseren Geist erfahren, denn der Impuls, der uns nach persönlicher Macht suchen lässt – in der vorherigen Phase – wird durch eine breitere und tiefere Sicht der Menschheit ersetzt.

Und schließlich kommt der Winter. Die Erntephase wird offenbart durch die Samen, die wir auspflanzten. Wir befinden uns in der Phase, die von 64 Jahren bis zum Ende unseres Lebens reicht. Alles, was wir auf unserer Reise bislang getan haben, kehrt mit ebendem Aroma wieder, das unserem Geschmackssinn entspricht. Dies ist der Moment des inneren Erlebens, der Entwicklung der kontemplativen Fähigkeit, der Augenblick, in dem wir unserer spirituellen Dimension erlauben können, sich auszudrücken und unsere Essentielle Aufgabe zu bestimmen. In diesem Moment beginnen wir, das SEIN wirklich anzunehmen, die oft verschleierte Essenz, die jeden von uns bewohnt. In diesem Moment sammeln wir alles, was wir gelernt haben, und stellen uns wirklich in den Dienst der Menschheit. Ohne Zweifel oder Fragen werden wir eins…. Ich, die Natur, der Andere, Gott/die Göttin!

Dies ist die Sichtweise der schamanischen Tradition (wie ich sie verfolge und lebe), wo gerade auch der Übergang von einer Jahreszeit zur anderen von bedeutungsvollen und lehrreichen Ritualen geprägt ist. Auf die gleiche Weise können diese Zyklen im Leben jedes Menschen ausgedrückt werden, unabhängig von seinem Alter. Zum Beispiel kann eine Person, die 20 Jahre alt ist, eine Herbstperiode leben, eine andere, die 40 Jahre alt ist, eine Sommersaison und so weiter. Da unsere Existenz nicht durch eine lineare Abfolge ausgedrückt wird, können wir alle Zyklen sogar an einem einzigen Tag unseres Lebens erleben. Wichtig ist, dass wir eine breite makrokosmische Sichtweise haben, ohne die spezifische mikrokosmische Sichtweise außer Acht zu lassen.

Leider schätzt unsere Kultur nur unzureichend das, was uns die Traditionen im Allgemeinen lehren. Ganz im Gegenteil lässt die von uns geschaffene Gesellschaft uns genau das tun, was die Kehrseite der Lehren besagt, d. h. sie lässt uns ein "produktives" Modell bewahren, das die Möglichkeit der Begegnung mit unserem intimsten Wesen verhindert. „Jugend" wird zum Idealzustand und verrückter Konsum zum wichtigsten Ziel. Macht, Reichtum und Status werden zu unserem Gott, bis wir eines Tages angesichts unserer eigenen Zerbrechlichkeit erschöpft umfallen. Das ist, wenn wir vor dem Spiegel stehen, auf unser Bild starren und uns in der Einsamkeit fragen: "Was bleibt von meinem Leben übrig?"

Es ist daher notwendig, dass wir in den tiefsten Tiefen unserer Herzen die wahren Wege suchen, die wir begehen wollen, damit wir unseren Winter erreichen können, in dem wir unserer/unserem inneren Ältesten dabei zuhören, liebevoll über das Leben zu sprechen, das in jedem Moment neu beginnt.

"Ja, es ist wahr – sagt die Älteste Frau, die mich bewohnt – ich habe das Alter der Ewigkeit und ich fühle mich jung und lebendig genug, um die Klarheit zu haben, Dir meine Lehren weiterzugeben. Wie kann es dann sein – sagt sie weiter – dass Menschen, die 60 Jahre oder älter sind, sich für alt, altersschwach und nutzlos halten? Ach, diese jungen Leute verstehen es nicht wirklich sich zu erfreuen – an der Prophezeiung, die sie erwartet, und an den süßen Aufgaben, die noch zu erledigen sind..."

Um Deine Gedanken zu beruhigen, schlage ich Dir Folgendes zum Lesen vor:

From Age-ing to Sage-ing: A Profound New Vision of Growing Older - Zalman Schachter-Shalomi, Ronald S. Miller:  - Ed Campus

Petite Histoire des Grandes Religions. - Challaye • Félicien - lbrasa Publishing Company

Zur Quelle der Kraft ¬Stevens, Joseph und Stevens, Leno - Alier

The Turning Point - Capra, Frijot - Cultríx Publishing Company

Ageless Body Timeless Mind. - Chopra, Deepak – Rocco Publishing Company

Die Großmütter - XamAM Alba Maria - Ed Kalango

Das Geheimnis der Großmütter - XamAM Alba Maria - Ed Kalango

Anmerkung der Autorin: XamAM Alba Maria, oder einfach XamAM, schrieb diesen Text, als sie 43 Jahre alt war; jetzt (Jahr 2019) im Alter von 66 Jahren fühlt sie sich frei und erkennt, dass sie die größten und bedeutendsten Momente ihres Lebens beginnend ab dem Alter von 50 Jahren erlebt hat.



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